Am 29. März 2021 veranstaltete die Boris-Nemtsov-Stiftung für Freiheit zusammen mit der Foundation for Democratic Development eine gemeinsame Online-Konferenz zum Thema investigativer Journalismus in Russland, Belarus und der Ukraine. Die Konferenz wurde von der Plattform des Europäischen Parlaments «EU East Neighbourhood – Friends of European Russia» ausgerichtet. An der Diskussionsrunde nahmen die Autor*innen aufwendiger Untersuchungen in den letzten Jahren teil. Unter anderem waren dabei Hristo Grozev („Bellingcat“), Maria Pevchikh („FBK“), Roman Badanin („Proekt“), Mikhail Maglov („Scanner Project“), Natalia Sedletskaya („Radio Svoboda“, Ukraine), Tadeusz Gichan („NEXTA“), sowie weitere russische und ausländische Journalist*innen und Expert*innen. Das Treffen wurde von Sergey Aleksashenko moderiert – Wirtschaftswissenschaftler und Mitbegründer der Boris-Nemtsov-Stiftung für Freiheit.
Boomender investigativer Journalismus und schwache staatliche Institutionen
Zhanna Nemtsova, die Mitbegründerin der Boris-Nemtsov-Stiftung, eröffnete die Diskussion am runden Tisch, mit der Feststellung, die Dysfunktion der russischen staatlichen Institutionen sei der Hauptgrund für das Aufblühen des investigativen Journalismus in Russland: „Wir haben keine funktionierenden Institutionen, einschließlich der Ermittlungsbehörden. Daher ersetzt der investigative Journalismus sie einfach. Die jüngste Untersuchung des „Scanner Projekts“ über die neuen Umstände des Mordes an Boris Nemtsov ist ein gutes Beispiel dafür. Wir haben viel gelernt, nicht nur, weil die Ermittlungsbehörden unter der Kontrolle der obersten Staatsbeamten und Putins stehen, sondern auch, weil sie einfach einen Teil ihrer investigativen Fähigkeiten verloren haben. Gleichzeitig werden die russischen investigativen Journalist*innen immer professioneller“.
Ein weiterer Grund für diesen Boom im Land sei das große öffentliche Interesse nach investigativem Journalismus. Trotz einer beträchtlichen Anzahl von öffentlichkeitswirksamen Ermittlungen gibt es in Russland nur sehr wenige unabhängige Journalistengruppen. Wie Roman Badanin, der Gründer und Chefredakteur von Projekt, beobachtet hat: „Die Wahrheit ist, dass echter investigativer Journalismus in Russland sehr gefragt ist. In den USA gibt es etwa 500 registrierte nichtstaatliche journalistische Projekte, aber in Russland können wir etwa zehn davon zählen“.
Ausweitung von Korruption und Sanktionen gegen Oligarchen
Eines der zentralen Themen der Diskussion war die Ausweitung der russischer Korruptionsstrategien nach Westeuropa. Mikhail Maglov, ein investigativer Journalist, betonte: „Russische Vertreter und ihr enger Kreis sprechen offen über einen sogenannten „eigenen Weg“, aber sowohl die Kollegen als auch unsere Untersuchungen zeigen, dass ihre Zukunft bereits eng mit Europa verbunden ist. Ich bin enttäuscht von den europäischen Institutionen, die bei den großen Transaktionen von schmutzigem Geld ein Auge zudrücken. Dieses Geld ist dem russischen Volk gestohlen worden. Ich glaube, dass wir dies zumindest aus der Sicht eines zivilisierten westlichen Modells bekämpfen sollten.“ Maria Pevchikh, die Leiterin der Ermittlungsabteilung der Anti-Korruptions-Stiftung („FBK“), teilt diese Meinung: „Die europäischen Institutionen müssen verstehen, dass, wenn sie Putin beeinflussen und ihn zum Gehen bringen wollen, sie ihm die Quellen seines Reichtums und die Unterstützung für sein Regime entziehen sollten – das ist genau dieses Geld. Und dieses Geld steckt in den Taschen der Oligarchen, der Freunde Putins, welche dieser in der Tat zu Oligarchen gemacht hat. Sie haben europäische Staatsbürgerschaften und sie haben unendlichen Reichtum. Ohne sie ist Putin nichts.“
„In Deutschland fällt alles, was der Kreml macht, auf ziemlich fruchtbaren Boden. Ein Teil der deutschen Öffentlichkeit sagt immer, dass Russland seine eigenen Interessen hätte. Schauen Sie sich den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Schröder. Er arbeitet jetzt aktiv mit Putin zusammen. Von seiner Seite wird die Vergiftung von Nawalnys sowie der Skripal-Angriff geleugnet. Er macht kein Geheimnis darus, dass er viel Geld von der russischen Regierung bekommt“.
Fidelius Schmid, ein Journalist des deutschen Magazins „Der Spiegel“
„Die Ströme von korruptem Geld zwischen Oligarchen und Kleptokraten aus Russland, Belarus und der Ukraine sind für Journalisten und Watchdog-Organisationen deutlich sichtbar. Der Einfluss der Kleptokratie hinterlässt eine Spur, die sich verfolgen lässt. So führt sie häufig nach Österreich, Zypern und einiges Mal sogar auch in die Vereinigten Staaten. Der beste Weg, dies zu bekämpfen ist, diese illegalen Geldströme zu blockieren“, fügt Daria Kalenyuk, die Geschäftsführerin des ukrainischen „Anti-Corruption Center“, hinzu.
Ermittlungsarbeit im Autoritarismus
Laut „Radio Svoboda“-Sonderkorrespondent Sergej Chasow-Kassia ist die Korruption in Russland das Hauptelement der autoritären Herrschaft von Wladimir Putin: „Absolut alle Leute, die dem Ölsektor irgendwie nahestehen, sind in Veruntreuungen verwickelt. Die Verbrechen in der Brennstoffindustrie werden sowohl vom Innenministerium als auch vom FSB bearbeitet. Deshalb sind sowohl die Polizei als auch die FSB-Offiziere in diese Veruntreuungen verwickelt. Der FSB hält zudem die Hauptfäden der Organisationsstrukturen des gesamten Korruptionssystems in den Händen.
Investigativer Journalismus spiele vor allem in Ländern eine wichtige Rolle, die bis heute noch oder wieder einem autoritären Staatssystem unterlägen. In der Hinsicht sind derzeit laut Andrius Kubilius, MdEP und Ko-Vorsitzender von Euronest PA, vor allem Belarus und Russland gemeint. Investigative Gruppen wie „Bellingcat“, „FBK“ und viele weitere unabhängige Redaktionen versuchten lediglich eine objektive Berichterstattung zu geben, wie es in Demokratien üblich ist, so Kubilius, MdEP.
Hristo Grozev („Bellingcat“), der Autor der Untersuchung über die Vergiftung von Alexey Navalny, betonte, dass in Russland die Arbeit investigativer journalistischer Gruppen stark von direktem Druck durch die staatlichen Behörden sowie anonymen Drohungen gegen Journalisten begleitet wird: „Wir stellen fest, dass „Bellingcat“ ständig verunglimpft wird. Die Vertreterin des Außenministeriums, Maria Zakharova, versucht zum Beispiel, uns auf jede erdenkliche Weise zu diskreditieren. Wir sind mit Internet-Trolling konfrontiert, wir und unsere Familien sind durch regelmäßige Drohungen nicht sicher“ betont Grozev.
Russischer Einfluss auf die Ukraine und Belarus
„Der Kreml sieht die Unterstützung der Korruption in der Ukraine als Garantie dafür, Kiew im Orbit des Moskauer Einflusses zu halten“, glaubt Natalia Sedletskaya, Journalistin und Autorin des investigativen Programms „Schemes“. Taduesh Gichan, die Redakteurin des belarussischen TV-Kanals „NEXTA“, teilt die oben genannte Meinung über die russischen Behörden: „Es ist kein Geheimnis, dass Lukaschenko nur noch dank Putin an der Macht ist. Fast alle der verschiedenen grauen Machenschaften, durch die Lukaschenko und sein enger Kreis reich werden, sind meist mit Russland verbunden.
„Das Ergebnis der russischen Außenpolitik ist die Situation, die wir jetzt in Belarus beobachten“, fügte Serge Kharitonov, Belarus-Experte von iSANS, hinzu. Er erinnerte daran, dass es der Kreml war, der im August 2020 mit dem Auftrag die friedlichen Proteste zu bekämpfen in alle größeren belarussischen Städte entsandte.
Zum Abschluss der Diskussion merkte Aleksashenko an, dass vor allem die europäischen Politiker*innen ihre Arbeit machen sollten: „Sie sollten nicht so sehr dem investigativen Journalismus in Russland, Belarus und der Ukraine helfen, sondern zu Hause, in der EU, wichtige Entscheidungen treffen, gerade um zu verhindern, dass korruptes Ideengut in den europäischen Raum gelangen bzw. diese dann auf demokratischem Wege zu bekämpfen.