Seit der Ermordung von Boris Nemtsov sind fast drei Jahre vergangen. Der Rechtsanwalt der Familie von Boris Nemtsov, Vadim Prokhorov, spricht darüber, wie die gerichtliche Untersuchung lief, welche Ergebnisse das Prozess brachte, sowie über den weiteren Plan, alle Schuldigen vor Gericht zu bringen.
Unmittelbar nach dem Mord von Boris Nemtsov hatte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation ein Strafverfahren nach Paragraphen «ж» und «з» des 2. Teils des Artikels 105 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation „Mord“ (von einer Gruppe von Personen verübt, von einer Gruppe von Personen nach vorhergehender Absprache verübt, von einer organisierten Gruppe, aus Habgier oder im Auftrag verübt, als auch mit dem räuberischen Angriff, Erpressung oder Bandenkriminalität verbunden), eröffnet. Die Ermittlung wurde von der Hauptuntersuchungsabteilung des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation durchgeführt.
Der Tochter von Boris Nemtsov, Zhanna Nemtsova, ist die Geschädigtenstellung in diesem Fall zugesprochen worden. Die Rechtsanwälte Vadim Prokhorov und Olga Mikhailova sind die Vertreter von Zhanna Nemtsova sowohl in der Phase des Ermittlungsverfahrens, als auch in der Phase der folgenden Gerichtsverhandlung.
Schon in der Phase des Ermittlungsverfahrens wurde von den Vertreter von Zhanna Nemtsova eine ganze Reihe von Anträgen zur gerichtlichen Untersuchung gestellt.
Wiederholt wurde eine Forderung der rechtlichen Würdigung als Straftat nach Art des Artikels 105 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation statt nach Artikel 277 des StGB RF „Anschlag auf das Leben eines Staatsmanns, Funktionärs oder Persönlichkeit des öffentlichen Lebens“ geltend gemacht. Dem Artikel nach wird die Tat mit einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe bestraft. Das Ermittlungskomitee hatte die rechtliche Würdigung abgelehnt; der abschlägige Bescheid wurde von den Rechtsanwälten vor dem Gericht erster Instanz, als auch vor dem Berufungsgericht angefochten. Die Gerichte haben aber den Standpunkt des Ermittlungskomitees unterstützt.
Im Laufe der Vorverhandlungen hatten die Vertreter der Geschädigten im Strafverfahren vor Beginn der gerichtlichen Beweisaufnahme des Moskauischen Bezirksmilitärgerichts den Antrag auf Zurückverweisung des Straffalles an den Staatsanwalt gestellt, wegen der Notwendigkeit der rechtlichen Würdigung nach Art des Artikel 277 des StGB RF. Bei der Prüfung des Antrags am 25. Juli 2016 hatte der Staatsanwalt Antipov, der die Anklage repräsentiert, öffentlich gesagt: „Wir können es nicht erlauben, dass die Morde von verschiedenerlei Oppositionellen als Anschlag auf das Leben von Staatsmännern, Funktionären oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens qualifiziert werden!“ Dieses Zitat beschreibt anschaulich die mangelnde politische Motivation, diese Straftat in der Übereinstimmung mit Geist und Buchstabe des Gesetzes zu untersuchen.
Später hatten auch das Moskauische Bezirksmilitärgericht und der Oberste Gerichtshof den Geschädigten die Zurückverweisung des Straffalles an den Staatsanwalt für die rechtliche Würdigung abgelehnt.
Dabei gilt das Motiv des Mordes an Boris Nemtsov offiziell als unbekannt.
Im Laufe des Ermittlungsverfahrens wurden von den Anwälten von Zhanna Nemtsova vielmals die Anträge um die Aufnahme der Ermittlungshandlungen und die Vernehmung einer Reihe von Personen gestellt, – u.a. Ruslan Geremeev, der Brüder Adam und Alibek Delimkhanov, Ramsan Kadyrov, das Oberhaupt des Föderalen Dienst der Streitkräfte der Nationalgarde der Russischen Föderation Viktor Solotov und einer Reihe von weiteren Personen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wurden die gestellten Anträge abgelehnt. Die Gerichte, wo gegen diese Ablehnungen der gerichtlichen Untersuchungen ordnungsgemäß Rekurs eingelegt wurde, hatten die Revision abgelehnt.
In Folge des strafgerichtlichen Vorverfahrens wurde von den Anwälten eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Videoaufnahmen von dem Augenblick des Mordes von den Überwachungskameras auf der Großen Moskvoretski Brücke anzufordern. Aber die Strafverfolgungsbehörden (u.a. Föderaler Schutzdienst) antworteten jedoch, dass sie diese Videoaufnahmen nicht im Besitz hätten.
Vor der Übergabe des Falls zum Gerichtsverfahren wurde bei der Akteneinsicht am Ende des Vorverfahrens von den Anwälten der Antrag gestellt, die gerichtliche Untersuchung des realen Motivs des Mordes an Boris Nemtsov wiederaufzunehmen, die Auftraggeber des Mordes festzustellen sowie Ruslan Geremeev und seinen Neffen Artur Geremeev unter Anklage zu stellen.
Die Anwälte waren auch der Meinung, dass die Identitäten von bei weitem nicht allen Tätern dieses Mordes festgestellt wurden. Deswegen hatten sie auch die gerichtliche Befragung von einer weiteren Reihe von Personen gefordert – von Shamzan Tasabaev, Aslanbek Chataev usw.
Weiterhin hatten die Anwälte wiederholt gefordert, die mutmaßlichen Täter und die Auftraggeber des Mordes – den General Viktor Solotov, Ramsan Kadyrov und eine Reihe von Personen aus seiner unmittelbaren Umgebung, unter denen die Brüder Delimkhanov, den Föderationsratsmitglied Sulejman Germeev und anderen, zu befragen und Ermittlungshandlungen gegen diese Personen vorzunehmen.
Alle diese Anträge wurden abgelehnt.
Die Phase der gerichtlichen Untersuchung von diesem Fall dauerte von Ende Juli 2016 bis 10. Oktober 2017. Gleich zu Beginn dieser Phase wurde von den Anwälten der Antrag über der Rückgabe des Falls an den Staatsanwalt für die rechtliche Würdigung nach Art des Artikels 277 StGB RF, gestellt. Das Gericht hatte den Antrag abgelehnt.
Nach dieser Ablehnung hatte die Geschädigte im Strafverfahren Zhanna Nemtsova einen Antrag über die Unvollständigkeit der Untersuchung beim Gericht gestellt:
- aufgrund der Ablehnung der rechtlichen Würdigung der Anklage;
- aufgrund der Verweigerungder Befragung und der Ermittlungshandlungen gegen einer Reihe von Beamten;
- aufgrund der Nichterklärung des Motivs für den Mord von Boris Nemtsov;
- sowie aufgrund der Weigerung des Bundessicherheitsdienstes, die Videoaufnahmen des Mordes von den zahlreichen Überwachungskameras auf der Brücke zu übergeben. Aus der offiziellen Antwort dieses Dienstes ergibt sich, dass sie angeblich keine Videokameras dort haben, was kaum zu glauben ist.
All dies hat schon vor Beginn des Prozesses zur Verletzung der Rechte der Opfer auf Gerechtigkeit geführt und zeugt von einer unzureichenden Untersuchung des Mordes von dem Führer der russischen Opposition. Auf Verlangen der Vertreter von Zhanna Nemtsova wurde dieser Antrag zu den Akten genommen.
Die Hauptphase der gerichtlichen Verhandlung im Moskauischen Bezirksmilitärgericht unter Einbeziehung von Geschworenen dauerte von Oktober 2016 bis 13. Juli 2017. Es wurden mehr als 80 Gerichtssitzungen durchgeführt, Dutzende von Personen als Zeugen vernommen, die Verfahrensakten betragen insgesamt mehr als 95 Bände.
Das Gericht hatte den Geschädigten im Strafverfahren die Vernehmung von einer ganzen Reihe von Zeugen, einschließlich Ramsan Kadyrov und Personen von seiner näheren Umgebung, abgelehnt. Das Gericht hatte auch die Vernehmung von einer Reihe von Mitkämpfern von Boris Nemtsov abgelehnt (u.a. von Olga Shorina, langjähriger Assistentin und derzeitiger Exekutivdirektorin der Boris Nemtsov Stiftung). Das Gericht weigerte sich auch, Ruslan und Artur Geremeev zur Teilnahme an der Vernehmung als Zeugen zu zwingen. Das Gericht hatte die Ladung zur Vernehmung des Direktors von dem Föderalen Dienst der Streitkräfte der Nationalgarde der Russischen Föderation Viktor Solotov abgelehnt, in dessen Befehlsbereich die Angeschuldigten Saur Dadaev und sein unmittelbarer Vorgesetzter Ruslan Geremeev waren (Viktor Solotov – ehemaliger langjähriger Leiter des Sicherheitsdienstes von Putin und eine ihm nahestehende Person und gleichzeitig ein enger Freund von Ramsan Kadyrov).
Eine Reihe von Fragen an Zeugen, die hauptsächlich darauf abzielten, die Auftraggeber und Organisatoren des Mordes zu identifizieren, wurde von dem vorsitzenden Richter Yuriy Zhitnikov, nicht zugelassen. Außerdem warnte der Richter jeden Zeugen, der von den Geschworenen vernommen wurde, dass er keine Aussagen über die politische Tätigkeit Boris Nemtsovs machen sollte.
Das Vorstehende stellt die Unvoreingenommenheit und die Unabhängigkeit des Gerichtes in Frage – deswegen haben die Vertreter von Zhanna Nemtsova am 30. Mai 2017 einen Befangenheitsantrag über den vorsitzenden Richter Yuriy Zhitnikov gestellt. Dieser Antrag wurde auch abgelehnt.
Am 29. Juni 2017 sprach das Kollegium der Geschworenen alle fünf Angeklagten schuldig. Dem Urteilsspruch vom 13. Juli 2017 nach wurden sie zu längeren Freiheitsstrafen von 11 bis 20 Jahren verurteilt.
Die Geschädigte im Strafverfahren bezweifelt die Schuld von mindestens einem von den Angeklagten – Khamzat Bakhaev. Es wurden keine schwerwiegenden Beweise von der Staatsanwaltschaft geliefert, darauf wurde von den Anwälten sowohl in den Plädoyers vor den Geschworenen als auch vor dem Berufungsgericht hingewiesen.
Von der Geschädigten im Strafverfahren wurde Revision gegen dieses Urteil bei dem Obersten Gericht mit der Forderung der Aufhebung des Urteils eingereicht – wegen nicht ordnungsgemäßer Qualifikation der Anklage, . Aber am 10. Oktober 2017 verwarf das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Revision – ebenso wie auch die Berufungen der Angeklagten.
Laut der Geschädigten wurden im Strafverfahren, im Laufe des Vorverfahrens und folgender gerichtlichen Verhandlung folgende Fehler begangen:
- Anklage nach falschem Paragraph
- das Motiv des Mordes ist nicht offiziell festgestellt;
- nur ein Teil der Täter wurde zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen;
- die Schuld einesAngeklagten – Khamzat Bakhaev – ist nicht bewiesen;
- keiner der Auftraggeber und Organisatoren ist bis heute identifiziert und bestraft worden.
Dabei liegt das Problem offensichtlich nicht darin, dass es unmöglich oder schwierig ist, die Personen zu identifizieren, über die ermittelt werden soll. Die Geschädigte indizierte diese Personen in ihren zahlreichen Anträgen. Das Problem liegt darin, dass die Staatsanwaltschaft nicht in dieser Richtung ermitteln will – es ist zu vermuten, dass dies der Wunsch der russischen Regierung ist.
Zurzeit gilt die gerichtliche Verhandlung als beendet, es wurde aber nur Bauernopfer zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen.
Im Januar 2016 sonderte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation jedoch einen separaten Straffall gegen Ruslan Mukhudinov und anderen „nicht festgestellten Organisatoren des Mordes“ von dem Hauptfverfahren („Mutterverfahren“) ab. Momentan wird aber nur gengen Ruslan Mukhudinov (Ruslan Geremeevs Fahrer) ermittelt, dessen Aufenthaltsort den Ermittlern angeblich nicht bekannt ist..
Es ist der Geschädigten aber nicht bekannt, dass die Ermittler in diesem separaten Fall irgendwelche realen Aktionen vorgenommen haben.
Die Vertreter von Zhanna Nemtsova führen im Rahmen dieses separaten Straffalls die Arbeit fort – in allernächster Zeit wird eine Reihe von Anträgen gestellt, auf welche die gerichtliche Untersuchung reagieren muss.
Am 27. August 2015 (binnen der 6-monatlichen Frist seit dem Zeitpunkt des Mordes) wurde von den Vertreter von Zhanna Nemtsova, den Anwälten Olga Mikhailova und Vadim Prokhorov, eine entsprechende Klage dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anhängig gemacht. Diese Klage ist von dem Europäischen Gerichtshof registriert. In den kommenden Monaten wird die Klage – mit Berücksichtigung der Entwicklung der Situation in der Ermittlung des Straffalls – ergänzt.
Leider sind die möglichen rechtlichen Mechanismen des internationalen Drucks auf die russischen Behörden, um Maßnahmen zur Aufdeckung des Mordes von Boris Nemtsov zu ergreifen, begrenzt. Aber solche Mechanismen existieren dennoch.
Zunächst einmal gibt es einige Möglichkeiten im Rahmen der internationalen Organisationen, zu denen Russland gehört: OSZE, PVER (Parlamentarische Versammlung des Europarates) usw.
Im Besonderen, noch im Januar 2016 unterstützen mehr als 60 Abgeordneten des PVER von verschiedenen Ländern und Fraktionen die Initiative von der schwedischen Parlamentarierin Kerstin Lundgren die Vorbereitung des Sonderberichtes in den Rahmen der PVER zu starten, der der Untersuchung des Mordes von Boris Nemtsov gewidmet wäre. Aber mehr als ein Jahr wurde dieses Projekt im Apparat des damaligen Vorsitzenden der PVER Pedro Agramunt gebremst. Im März 2017 gelangte es dem PVER, den Prozess der Vorbereitung des oben genannten Sonderberichtes in Gang zu setzen. Im Mai 2017 wurde der bekannte europäische und litauische Parlamentarier Emanuelis Zingeris als der Berichterstatter beigeordnet.
Am 11. Oktober 2017 wurden im PVER-Ausschuss für Recht und Menschenrechte in Straßburg im Rahmen der Vorbereitung des Berichtes die ersten Anhörungen zu der Untersuchung des Mordes von Boris Nemtsov durchgeführt – mit der tätigen Mitwirkung von Emanuelis Zingeris, Zhanna Nemtsova, Vladimir Kara-Murza (Senior), den Anwälten Vadim Prokhorov und Olga Mikhailova. Es ist davon auszugehen, dass noch eine Reihe von Anhörungen im Rahmen der Vorbereitung dieses Sonderberichtes des PVER anstehen.