Alexei Nawalny: Zwei letzte Worte

01.03.2021

Am 20. Februar 2021 fanden im Babuschkinski-Bezirksgericht von Moskau gleich zwei Gerichtsverhandlungen gegen Alexei Nawalny statt: Die Berufung im Fall »Yves-Rocher« und die Urteilsverkündung im Verfahren wegen Verleumdung eines Veteranen. Das erste Gericht ließ die Entscheidung über die Umwandlung einer Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe in Kraft, ungeachtet einer Eilentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in der Nawalnys sofortige Freilassung verfügt wurde. Im zweiten Verfahren wurde er zu einer Geldstrafe von 850.000 Rubel (etwa 10.000 Euro) verurteilt. In beiden Verfahren hat er ein letztes Wort gesprochen. Wir veröffentlichen beide.

Berufung im Fall »Yves-Rocher«: Russland wird glücklich sein

Ich muss so oft mein letztes Wort sprechen! Jetzt geht die Verhandlung zu Ende, und dann habe ich gleich die nächste, und da gibt es wieder ein letztes Wort. Wenn jemand irgendwann mal meine letzten Worte herausgeben sollte, wird das ein dickes Buch. Mir scheint, das ist ein bestimmtes Signal, das dieses ganze Regime und Wladimir Putin, der Herr des sagenhaften Palastes, mir senden wollen. Das sieht zwar seltsam aus, aber wir können das, schau, wir können das so machen. Wie ein Jongleur oder Zauberer, der im Gerichtssaal den Ball auf dem einen Finger kreisen lässt, dann, hopp, auf dem anderen, dann auf dem Fuß, dann auf dem Kopf. Und sie sagen: »Schau her, wir können dieses ganze Rechtssystem an einem beliebigen Teil unseres Körpers kreiseln lassen, was willst du gegen uns machen? Wir können tun, was wir wollen, schau nur, genau so.«

Aber ehrlich gesagt, ich glaube, das ist einfach nur Angeberei. Es stimmt, sie können mit mir machen, was sie wollen, und das tun sie auch. Aber ich bin schließlich nicht der Einzige, der das sieht. Bei den normalen Menschen, die das mit ansehen, hinterlässt das einen starken Eindruck. Weil jeder sich denkt: »Oha. Und wenn ich es mal mit der Justiz zu tun kriege? Welche Chance habe ich dann, irgendetwas zu erreichen?«

Aber nichtsdestotrotz, das letzte Wort steht an, also muss ein letztes Wort gesprochen werden. Ich weiß schon gar nicht mehr, worüber ich reden könnte, Euer Ehren. Wenn Sie wollen, spreche ich mit Ihnen über Gott? Und über das Seelenheil. Ich stelle sozusagen den Hebel für Pathos auf Vollgas. Ich bin nämlich ein gläubiger Mensch. Was in der Stiftung für Korruptionsbekämpfung und in meinem Umfeld ein regelmäßiger Anlass für Witzeleien ist. Die Leute sind ja meist Atheisten, ich war auch mal einer, sogar ein ziemlich militanter. Aber jetzt bin ich ein gläubiger Mensch, und das hilft mir sehr bei meiner Tätigkeit. Alles wird viel, viel einfacher dadurch. Wissen Sie, ich grüble weniger nach, ich stehe vor weniger Dilemmata in meinem Leben. Denn ich habe so ein Buch, in dem mehr oder weniger präzise beschrieben ist, was man in welcher Situation zu tun hat. Es ist natürlich nicht immer einfach, sich an das Buch zu halten, aber im Großen und Ganzen bemühe ich mich. Und deshalb fällt es mir leichter als anderen in Russland, mich mit Politik zu befassen. Kürzlich hat mir jemand geschrieben: »Nawalny, dir sagen sie ständig: Halte durch, gib’ nicht auf, ertrage es, beiß’ die Zähne zusammen. Was hast du denn eigentlich zu ertragen? Du hast doch in einem Interview gesagt, dass du an Gott glaubst. Und es steht doch geschrieben: Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden. Also, es geht dir doch bestens.«  Und ich dachte: Wow, wie gut dieser Mensch mich doch versteht. Nicht, dass es mir bestens gehen würde, aber diesen konkreten Spruch habe ich eigentlich immer als eine Art Handlungsanweisung verstanden.

Natürlich bin ich nicht entzückt von dem Ort, an dem ich mich befinde. Aber trotzdem empfinde ich keinerlei Bedauern darüber, dass ich zurückgekehrt bin, oder über das, was ich tue. Denn ich habe alles richtig gemacht. Im Gegenteil, ich verspüre eine tiefe Zufriedenheit. Warum? Weil ich einem schwierigen Moment getan habe, was in der Handlungsanweisung steht, und dass das Gebot nicht verraten habe. Und dazu etwas ganz Wichtiges: Ohne Frage klingt dieser Spruch – »die Seligen« – »die da hungern« – »die nach der Wahrheit dürsten« – »sie werden gesättigt sein« – für einen heutigen Menschen schwülstig. Es klingt schräg. Menschen, die solche Dinge sagen, wirken verrückt und seltsam. Solche Menschen sitzen mit zerrauften Haaren in ihrem Kämmerchen und versuchen sich mit irgendetwas aufzumuntern, weil sie Einzelgänger sind; und sie sind Einzelgänger, weil sie von niemandem gebraucht werden. Und das ist das Wichtigste, was die Macht, was unser ganzes System solchen Menschen einzubläuen versucht: Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger. Zuerst ist es wichtig, dir Angst einzujagen, und dann, dir zu beweisen, dass du allein bist. Wir sind schließlich normale, vernünftige Menschen, was soll man sich da an irgend so ein Gebot halten, meine Güte? Deshalb, wenn es um Einsamkeit geht – das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ein sehr wichtiges Ziel dieser Macht. Sehr schön hat das eine bemerkenswerte Philosophin namens Luna Lovegood ausgedrückt – erinnert ihr euch an sie in »Harry Potter«? Als sie sich mit Harry Potter in einem schwierigen Moment unterhält, da sagt sie: »Es ist wichtig, sich nicht allein zu fühlen. Denn an Voldemorts Stelle würde ich sehr wollen, dass du dich allein fühlst.« Unser Voldemort in seinem Palast will das mit Sicherheit genauso.

Im Konvoi zum Beispiel, oder die netten Burschen im Gefängnis, die sind alle völlig normal, aber sie reden nicht mit mir. Man hat ihnen scheinbar verboten, mit mir zu reden. Sie sagen nur das dienstlich Notwendige. Das ist auch so eine Maßnahme, damit du dich ständig allein fühlst. Doch ich fühle mich nicht so. Und ich erkläre gern, warum: Diese Konstruktion – »Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Wahrheit, denn sie werden gesättigt werden« – mag exotisch und seltsam wirken. Aber tatsächlich ist das die bedeutendste politische Idee, die zurzeit in Russland existiert.

Euer Ehren, es gibt in Russland so eine Formulierung, die absolut populärste politische Phrase. Wie lautet das populärste politische Motto in Russland? Helfen Sie mir. Worin liegt die Kraft? Richtig, die Kraft liegt in der Wahrheit. Das ist der Satz, den alle wiederholen. Und da ist er wieder – der Spruch von der Seligkeit, nur ohne irgendein »die da dürsten«. Komprimiert auf Twitter-Format. Und das ganze Land wiederholt an allen Ecken und Enden, dass die Kraft in der Wahrheit liegt. Und wer die Wahrheit hinter sich hat, der wird siegen. Und das ist wichtig. Unser Land ist zwar jetzt auf Ungerechtigkeit gebaut, ständig haben wir mit dieser Ungerechtigkeit zu kämpfen, sogar mit der schlimmsten Form der Ungerechtigkeit, der bewaffneten. Aber trotzdem sehen wir, dass Millionen Menschen, zig Millionen Menschen zur Wahrheit gelangen wollen, und früher oder später wird es ihnen gelingen. Und sie werden gesättigt sein.

Denn für alle ist doch offensichtlich: Hier steht der Palast, und man kann noch so oft sagen: das ist nicht meiner, es gibt ihn nicht – er existiert. Und es gibt die Armen, da kann man vom hohen Lebensstandard reden, soviel man will, das Land ist arm, und das sieht jeder. Wo die Menschen doch reich sein müssten. Es wurden all die Ölpipelines gebaut, es wurde gut verdient, aber Geld ist keines da. Das ist die Wahrheit, und gegen sie kommt niemand an. Und früher oder später werden die Menschen, die die Wahrheit wollen, zu ihr gelangen. Sie werden gesättigt sein.

Und noch eine wichtige Sache, die ich Ihnen sagen will – Ihnen und der Staatsanwältin persönlich und überhaupt diesem System. Allen. Es ist wichtig, vor diesen Menschen keine Angst zu haben. Vor den Menschen, die nach der Wahrheit streben. Viele machen sich irgendwie Sorgen: »Mein Gott, was soll nur werden, die Revolution kommt, es wird Schrecken und Erschütterungen geben.« Aber denken Sie doch einfach mal nach, wie schön das Leben sein könnte, wenn diese ewige Lügerei nicht wäre. Ohne Lüge. Die Möglichkeit, nicht zu lügen, das ist eine sehr reizvolle Situation. Überlegen Sie mal, wie herrlich das wäre: Man arbeitet als Richter, und es gibt keine »Telefonjustiz«. Keiner ruft einen an. Man ist einfach ein toller Richter mit gutem Gehalt, wahrscheinlich ein höheres als jetzt. Eine geachtete Stütze der Gesellschaft. Niemand kann einen anrufen, niemand kann vorschreiben, wie man seine Fälle zu entscheiden hat. Und man geht zu seinen Kindern und Enkeln, und sagt: Ich bin tatsächlich ein unabhängiger Richter. Und auch alle anderen Richter sind völlig unabhängig. Und es wäre großartig, als Staatsanwalt in einem kompetitiven System aufzutreten und ein interessantes juristisches Spiel zu spielen, man beschützt jemanden oder bestraft echte Übeltäter. Menschen schreiben sich wohl kaum an einer juristischen Fakultät ein und werden danach Staatsanwalt, um bei der Fabrikation von Strafsachen mitzumachen und für irgendwen Unterschriften zu fälschen. Ich kann nicht glauben, dass jemand deshalb Staatsanwalt werden möchte. Und ich kann nicht glauben, dass jemand Polizist wird, um erzählen zu können: »Dem da haben wir auf der Demo aber ordentlich den Kopf gespalten! Und diesen Typen hier haben wir im Konvoi transportiert, obwohl er unschuldig ist. Wir hören uns jetzt sein nächstes letztes Wort an.« Niemand will so etwas! Niemand möchte so sein. Alle wollen ganz normale Polizisten sein. Diese Lügerei hat nichts als Nachteile, es gibt keine Vorteile, man wird noch nicht einmal besser bezahlt dafür. Nur Nachteile, keine Vorteile, für niemanden. Auch nicht für Selbstständige. Jedes beliebige Unternehmen im Land ist nur die Hälfte wert, weil die Justiz nicht funktioniert, wegen der Ungerechtigkeit, weil überall Chaos und Armut herrschen. Allen ginge es um vieles besser, wenn die Lügen und die Ungerechtigkeiten nicht wären. Alles wäre um vieles besser, wenn die Menschen, die die Wahrheit wollen, zur Wahrheit gelangen würden. Kein Mensch auf der Welt hat als Schulkind mit leuchtenden Augen gesagt: »Ich gehe mal zum Geheimdienst und dann schicken sie mich los, und ich werde die Unterhosen eines Oppositionellen reinigen, weil jemand Gift darauf geschmiert hat.« Solche Menschen gibt es nicht! Niemand will so etwas tun! Alle wollen normale, geachtete Menschen sein, wollen Terroristen, Banditen und Spione fangen.

Und deshalb ist es wichtig, keine Angst vor den Menschen zu haben, die keine Angst vor der Wahrheit haben. Und sie vielleicht sogar zu unterstützen. Direkt, oder indirekt. Oder zumindest der Lüge, diesem Lügengebäude, keinen weiteren Vorschub zu leisten, um die Welt um einen selbst herum nicht noch schlechter zu machen. Damit ist natürlich ein gewisses Risiko verbunden. Aber erstens ist es nicht groß, und zweitens, mit den Worten des führenden zeitgenössischen Philosophen Rick Sanchez: »Das Leben – ist ein Risiko. Aber wenn Du nichts riskierst, bist du nur ein Haufen zufällig zusammengesetzter Moleküle, der im Strom des Weltalls mitschwimmt«.

Um zum Schluss zu kommen: Ich bekomme jetzt sehr viele Briefe. Und ungefähr jeder zweite Brief endet mit dem Satz: »Russland wird frei sein«. Das ist ein tolles Motto. Ich sage es selbst auch ständig, ich wiederhole es, schreibe es als Antwort, skandiere es auf Demos. Aber ich denke immer: Irgendwie reicht mir das nicht. Das heißt, natürlich will ich, dass Russland frei wird, das ist unabdingbar. Aber das ist nicht genug. Das kann doch nicht das Ziel in sich sein. Ich möchte, dass Russland so reich wird, wie es seinen nationalen Reichtümern entspricht. Ich möchte, dass diese nationalen Reichtümer gerecht verteilt werden, dass jeder seinen Anteil vom Kuchen aus Öl und Gas bekommt. Ich möchte, dass wir nicht nur frei sind, sondern frei in einem funktionierenden Gesundheitssystem. Dass die Männer das Rentenalter erleben, denn zurzeit schafft es die Hälfte aller Männer nicht bis dahin, und auch den Frauen geht es da nur wenig besser. Ich möchte, dass es normale Bildungsmöglichkeiten gibt, dass die Menschen etwas lernen können. Und natürlich möchte ich, dass man für ein und dieselbe Arbeit in Russland dieselbe Bezahlung bekommt wie in irgendeinem durchschnittlichen europäischen Land. Denn zurzeit ist das viel weniger. Egal welche Arbeit: Polizist, Programmierer, Journalist, wer auch immer, alle verdienen viel weniger.

Es gibt noch viele andere Dinge, von denen ich mir wünsche, dass sie in meinem Land passieren. Wir müssen nicht nur damit kämpfen, dass Russland unfrei ist, sondern auch damit, dass es im Ganzen und in vielerlei Hinsicht unglücklich ist. Wir haben alles, und sind doch ein unglückliches Land. Schaut in die russische Literatur, die große russische Literatur, meine Güte, nichts als Beschreibungen von Unglück und Leiden. Wir sind ein unglückliches Land, und wir schaffen es nicht, aus dem Kreis dieses Unglücks auszubrechen. Aber natürlich wollen wir das. Und deshalb schlage ich vor, die Losung etwas abzuändern und davon zu sprechen, dass Russland nicht nur frei, sondern auch glücklich sein muss. Russland wird glücklich sein.

Urteilsverkündung im Verfahren wegen Verleumdung eines Veteranen: Die Wahrheit nimmt sich ihren Teil

Es ist so lächerlich, schon wieder ein letztes Wort. Den ganzen Tag hat die Staatsanwältin moniert, dass ich für mich irgendeine Exklusivität beanspruche. Mir scheint, wenn jemand zwei letzte Worte an einem Tag sprechen kann, dann ist das auch eine Form der Exklusivität, die ich zwar nicht gefordert habe, aber für mich beanspruchen darf.

Für das letzte Wort habe ich einen Zettel mitgebracht, diesen hier. Der ist schon ziemlich abgenutzt, weil ich ihn schon den ganzen Prozess über in der Hosentasche trage. Und wenn ich zurück ins Untersuchungsgefängnis komme und durchsucht werde, heißt es jedes Mal: »Was ist das? Das ist verboten, nur Material aus der Strafakte ist erlaubt.« Und ich antworte: Das ist für mich das allerwichtigste Material aus dieser Akte. Erinnern Sie sich, ganz am Anfang haben Sie uns eine halbe Stunde Zeit gegeben, um die Akten einzusehen, und ich habe mir das Verzeichnis der Verschlusssachen in den Akten angesehen. Das hier war die einzige Sache, die einzige Sache, die mich interessiert hat, und ich habe davon eine Abschrift gemacht.

Und im Laufe des Prozesses habe ich diesen Zettel immer wieder aus der Tasche geholt und heimlich angeschaut. Immer wieder, in den pathetischen Momenten, als unsere Staatsanwältin hier Tränen vorgetäuscht und geschluchzt hat, und gesagt hat: »Die Veteranen, sie sind doch unser Ein und Alles, unser Staat existiert nur dank der Veteranen. Und nur wir lieben sie, und das heißt, andere, solche wie ihr, ihr beleidigt sie.« Als Sie, Euer Ehren, gesagt haben: »Wagen Sie es nicht. Die Veteranen sind das Wichtigste überhaupt. Alles in Russland für die Veteranen.« Und sogar später, als ich in der Zelle den Fernseher eingeschaltet habe und dort alle in einem fort erzählt haben, wie ich den Veteranen beleidigt habe. Denn der Veteran ist natürlich das Wichtigste, was es im Land nur geben kann, ganz Russland existiert nur für den Veteranen. Wieder habe ich den Zettel aus der Tasche gezogen und darauf geschaut. Dieser Zettel ist eine Auskunft aus dem Sozialamt, sie listen auf, welche Hilfen der Veteran Artemjenko von ihnen erhalten hat.

Das hier ist die Auskunft zu den letzten vier Jahren.  Das letzte Mal hat er am 6.7. ein Lebensmittelpaket bekommen, und insgesamt hat er in den letzten vier Jahren sieben Mal Hilfen erhalten. Dreimal Bezugsscheine für ein Lebensmittelpaket, einmal ein Lebensmittelpaket, und dreimal Lebensmittelkarten. Und wenn ich richtig gerechnet, habe, und ich denke, das habe ich, beläuft sich der Gesamtwert dieser Leistungen auf etwa 11.000 Rubel . Das ist eure ganze Fürsorge für die Veteranen, Mannomann, was seid ihr nur für scheinheilige Lumpen! Da zeigt sich die wahre Haltung gegenüber den Veteranen. Gegenüber den alten Menschen, gegenüber allem, was vorgeht in diesem Land.

Ich habe hier noch ein anderes Blatt aus den Akten, das ist die Zusammensetzung der Ermittlergruppe. Fünfzehn Leute aus unterschiedlichen Regionen hat man nach Moskau gekarrt, fünfzehn Nichtsnutze und Wichtigtuer, man hat für sie Zimmer angemietet, sie haben Spesen bekommen und einen Gehaltszuschlag, und das alles, damit sie dieses «Verbrechen« aufklären. Dafür ist mehr Geld draufgegangen, als der Veteran in seinem ganzen Leben vom Staat gekriegt hat. Ein Sitzungstag an diesem Gericht – zählen sie mal, was hier so an Beamten rumsteht – kostet mehr, als der Veteran, der Kriegsteilnehmer Artemjenko, in den letzten vier Jahren an Hilfe von einem Staat erhalten hat, der sich erdreistet, zu verkünden, dass er für seine Veteranen sorgt.

Das Ekelhafteste, Abscheulichste und Widerwärtigste an diesem System ist, dass es eigens zu dem Zweck existiert, genau diese Menschen zu berauben. Die allerunglücklichsten Menschen, die Veteranen, die Rentner. Sie sind doch die Quelle dieser Gelder. Woher kommen denn die Paläste, die Klobürsten für 50.000 Rubel das Stück? Wir wissen doch, Geld kommt nicht aus dem Nirgendwo. Es kommt von hier, diesem Veteranen wurde es gestohlen. Irgendwer wurde nicht richtig geheilt, irgendwer konnte nicht fertig studieren, irgendwer hat keinen Rollstuhl gekriegt, irgendwer hat keine Medikamente bekommen, und das alles, um einen Palast zu bauen, um Putins Schwiegermüttern Wohnungen zu kaufen, um sicherzustellen, dass Medwedjew seine vier Schlösser bekommt.

Und jeder von ihnen muss etwas abkriegen, aber um zu geben, muss man irgendwem etwas wegnehmen. Und das machen sie, und zwar so, dass ihnen Möglichkeit zum Stehlen erhalten bleibt. Sie benutzen dafür die, die sie bestohlen haben. Das ist das Widerlichste. Jeden gottgegebenen Tag bestehlt ihr diesen Veteranen, und dann schleift ihr ihn hierher, schüttelt ihn und sagt: »Wir werden immer an der Macht bleiben, weil wir ihn beschützen«. Das ist einfach nur ungeheuerlich.

Hier ist ja so ein Witzbold aufgetreten, der mich angezeigt hat. Und der hat den besten Satz in diesem ganzen Prozess gesagt. Er hat gesagt: »Ich schau mir also diesen Film an, und da ist dieser alte Mann, und man sieht gleich, dass er arm ist, also ein Rentner oder Veteran.« Aber warum nur ist der arm? Warum ist das in unserem Land absolut die Assoziation, die praktisch jeder hat? Nun ja, das ist ein Veteran, nun ja, das heißt, er ist halt arm. Ein Kriegsveteran, das heißt: sehr alt, und in der Regel bitterarm. Ja natürlich, jeder sieht das sofort, weil es ins Bild passt. Arm – also ein Veteran. Nur warum, ich verstehe es nicht? Wenn das ein Kriegsteilnehmer ist, und ihr habt euch alle so viel zusammengestohlen, und ihr erzählt, wie ihr sie liebt, wie ihr sie verteidigt, wieso sehe ich dann auf den ersten Blick, wie arm er ist? Denn wenn wir jetzt mal die Länder der Anti-Hitler-Koalition nehmen, oder besser, wir lassen das mit der Anti-Hitler-Koalition und nehmen die, die den Krieg verloren haben: Italien, Japan, Deutschland. Dann sehen wir, dass in Russland die Soldaten und Sieger die kleinste Rente von allen haben. Die allerkleinste, und ihr wollt sie nicht erhöhen. Ich habe sogar einen Gesetzesentwurf geschrieben, damit man die Pensionen anhebt, wie bei den Soldaten der Deutschen Bundeswehr. Nein, eine Erhöhung kommt nicht in Frage!

Weil es dann für den Palast nicht reicht. Weil Geld eben nicht aus dem Nirgendwo kommt. Dafür, dass in Gelendschik oder an Frankreichs Südküste die schicken Häuser der Leute von «Einiges Russland« stehen, muss irgendwer bestohlen werden. Und am einfachsten und bequemsten ist es natürlich, einen Veteranen oder Pensionär zu bestehlen. Wissen Sie, dieses ganze Regime, von Putin über »Einiges Russland« bis zu Ihnen allen, das hat sich in ein riesengroßes Schwein verwandelt, das aus einem Trog voller Geld, voller Petrodollars frisst. Es hat seinen Kopf darin versenkt, und wenn man es vorsichtig anstupst und sagt: »Hallo, aber das ist doch für alle da« – dann hebt ihr den Kopf und sagt: »Wie bitte? Wir lassen nicht zu, dass die Veteranen beleidigt werden!« Und wieder runter mit dem Kopf. Und alle sagen: »Vielleicht reicht es jetzt mal langsam mit der Klauerei?« Und ihr hebt erneut eure Visage und sagt: »Wie bitte? Wir erlauben nicht, dass die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs revidiert werden!«

Was habt ihr, euer Putin und euer »Einiges Russland« eigentlich mit diesem Krieg zu tun? Ihr hört: »Wir sind die Sieger«. Seid ihr nie aus den Schützengräben rausgekrochen?

Ihr benutzt das alles, weil ihr nicht über die Gegenwart reden wollt. Ihr benutzt das alles, weil es sehr unangenehm ist, über irgendein beliebiges aktuelles Problem reden zu müssen. Weil man mit euch, immer wieder, über Korruption reden will, über Armut, über Diskriminierung, über den Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung, und ihr wisst nichts zu sagen. Und wenn konkrete Leute, so ich wie, allzu bohrende Fragen stellen, dann heißt es sofort: »Was für ein Palast? Welcher Palast, welcher Dimon, welcher Putin? Lasst uns mal darüber reden, wie er den Veteranen beleidigt hat.« Und genau dafür wurde dieser Prozess erfunden. Weil ihr über all das andere nicht reden wollt.

Einer der schändlichsten Momente in diesem Prozess war sicherlich der, als die Staatsanwältin die gefälschte Aussage vorgelesen hat. Das war ja allen klar, eine zehn Seiten lange Aussage. Am Anfang haben sie sich wahrscheinlich zusammengesetzt und gesagt: »Nun, jetzt brauchen wir eine Aussage, die er vor Gericht vorlesen kann.« Aber das Großväterchen ist alt, und kann kaum noch sprechen. »Na egal, komm, zum Teufel mit ihm, wir nehmen seine alten Memoiren und unterschreiben für ihn.« Und sie haben sich noch über ihn lustig gemacht: »Ach was soll‘s, der Opa ist alt, dem ist eh alles egal«. Und dann hat sie es vorgelesen, Pausen gemacht und so getan, als ob ihre Stimme versagt.

Ich möchte Sie an eine Episode aus der jüngeren Geschichte unseres Landes erinnern, die ich während dieses Prozesses schon erwähnt habe, aber man kann gar nicht oft genug daran erinnern. Wie in der Region Krasnodar, unmittelbar gedeckt vom damaligen Generalstaatsanwalt Tschajka, der bis heute in der Staatsanwaltschaft tätig ist, sowie von seinen Untergebenen, die Tsapok-Bande ihr Unwesen getrieben und das ganze Land terrorisiert hat, Schülerinnen vergewaltigt und Menschen ermordet. Und weil Staatsanwaltschaft und Gerichte sie gedeckt haben, wurden sie erst dingfest gemacht, nachdem sie eine ganze Großfamilie abgeschlachtet hatten, alle Kinder und Erwachsenen umgebracht, auf dem Hof aufgeschichtet und angezündet und – das steht alles in den offiziellen Akten – ein neugeborenes Kind lebendig ins Feuer geworfen hatten.

Erinnern Sie sich an diese Geschichte? Das alles konnte geschehen, weil hinter ihnen die Staatsanwaltschaft stand, die Gerichte, hinter ihnen stand »Einiges Russland«. Es sind Mitglieder von »Einiges Russland« die das alles tun. Und diese Episode, verstehen Sie, die wollen Sie nicht vorlesen. Und ihre Stimme zittert nicht, obwohl das lupenreine faschistische Verbrechen sind. Ihre Stimme zittert nicht, im Gegenteil, mit stolzer Stimme sagen Sie: »Hm. Und wer ist der Letzte an der Kasse?« Und sie sind bereit, diesem riesigen Eber zu dienen, der seine Schnauze in den Petrodollars versenkt hat, weil Sie hoffen, dass ein paar Krümel für Sie abfallen werden.

Ich schalte den Fernseher ein und sehe eine Reportage, eine beschämende Reportage. Da wird die Episode gezeigt, wie der Veteran angeblich erfährt, dass Nawalny ihn beleidigt hat, und ihm wird deshalb schlecht. Und durch einen wundersamen Zufall steht genau in diesem Moment beim Veteranen zu Hause ein Kamerateam bereit, das ihn filmt. Da liegt also dieser Mensch – das wird alles gezeigt, ich sehe es im Fernsehen – er liegt in Unterhosen auf der Bettdecke, und daneben steht sein Enkel, und dessen Augen leuchten vor Glück, er ist zufrieden, es steht ihm gleichsam ins Gesicht geschrieben: Meine Güte, endlich habe ich Opa zu Geld gemacht. Es hat geklappt. Endlich ist er in unserer Familie wieder zu etwas nütze. Alles sind glücklich, die Kameras nehmen auf, und hinter der Kamera steht wahrscheinlich Margarita Simonjan und sagt: »Komm’ schon Opa, nicht bewegen, bleib’ liegen.« Und ein 95 Jahre alter Mensch liegt in Unterhosen auf der Bettdecke, und sein Gesicht sagt: Was geht hier vor? Warum machen die das? Und sie: »Ach, alles im Lot. Alles gut, so macht sich das anrührender.«

Mit diesem ganzen Prozess, dessen Ziel so offensichtlich ist, habt ihr tatsächlich alle Veteranen noch zehnmal mehr erniedrigt und beleidigt, wie ihr das vorher schon getan habt. Ihr habt einen Menschen, der damit gar nichts zu tun hat, in seiner Würde herabgesetzt und benutzt wie eine Handpuppe. Mal soll er auftreten, mal nicht. Und ihr unterschreibt einfach ganz offen für ihn. Das heißt, in eurer Vorstellung ist das eigentlich überhaupt kein Mensch. Nun, Sie verstehen schon, ein lebendiger, handlungsfähiger Mensch, wie kann man den als Menschen annehmen, und zugleich zehn verschiedene Erklärungen von ihm mit unterschiedlicher Handschrift unterschreiben? Weil er für euch überhaupt kein Mensch ist. Für euch und eure Führung ist er nur ein Werkzeug, eine Puppe, die ihr für eure Zwecke benutzen wollt.

Ich habe das schon einmal zu Beginn meiner Einlassungen am ersten Verhandlungstag gesagt, und ich knüpfe dort wieder an: Ja, ich denke, dass Sie für all das in der Hölle brennen werden. Und ich hoffe – Sie sind ja alle noch recht jung – dass Sie nicht nur in der Hölle brennen werden, sondern sich auch noch vor einem normalen, menschlichen Gericht für all das verantworten werden, was Sie getan haben. Ich verstehe, was hier gespielt wird. Erst die eine Verhandlung, damit die Gerichtsentscheidung in Kraft tritt, und jetzt die andere, nur damit man abends sagen kann: Das war das Gericht vom letzten Mal, und jetzt schon wieder… Ich habe dreieinhalb Jahre gekriegt, und jetzt kriege ich nochmal die dreieinhalb Jahre. Nur um sagen zu können: »Nawalny sitzt nicht, weil er sich vor den Behörden versteckt hat, sondern weil er einen Veteranen beleidigt hat.« Und ihr werdet damit immer weiter machen und dem Fernsehpublikum euren Bullshit eintrichtern. Die Absicht dahinter ist klar, und bestimmt lässt sich ein Teil des Fernsehpublikums täuschen, aber bin sicher, ich weiß einfach, dass dieser Plan nicht aufgehen wird.

Denn die vielen Menschen, die diesen Prozess verfolgen – die sehen doch, wie das alles abläuft, und sie sind genauso angewidert wie ich. Denn, anders als für euch, sind für sie diese Veteranen, die Pensionäre und wer auch immer: Menschen. Normale Menschen. Die man nicht verhöhnen darf. Die man nicht dazu bringen darf, bei irgendwelchen fiesen Filmchen mitzumachen. Für die man nicht unterschreiben darf. Deren Aussagen man nicht fälschen darf. Die man nicht einem hilflosen Zustand filmen darf. Und was ihr euch ausgedacht habt, das wird nicht gelingen. So oder so nimmt die Wahrheit sich ihren Teil, und jeder wird bekommen, was er verdient hat.

Quelle: https://navalny.com/p/6469/
Übersetzung: Barbara Falk